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Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen

Konzept und Ziele der Lehre

Entwerfen mit Vorbildern

"(...) man kann danach streben durch die aneinander gereihten Beispiele und durch die daran geknüpfte Erörterung den Sinn und das gefühl zu schärfen, daß dasselbe nach der wahren Richtung thätig werde um einen neuen Gegenstand (...) auch richtig behandeln und beurtheilen zu können. Aus dieser Übung des gefühls sowohl als des Scharfsinns geht dann am Ende ein Tact der Seele hervor der augenblicklich das Wichtige in einer Aufgabe erfaßt und hinzustellen vermag, und der ein Kennzeichen des Talents ist, welches wie überall in der Kunst nicht fehlen darf. Wo dieses Talent aber auch nicht vorhanden ist, wird der in guten Anschauungen Geübte und practisch Ausgebildete nichts erzeugen können, was wirklich tadelnswerth sey, seinen Schöpfungen wird nur das eminente Neue fehlen, dem allein die Einbildungskraft das Leben geben kann."  Karl Friedrich Schinkel beschreibt in seinem "Architektonischen Lehrbuch" den Entwurfsprozess des Architekten als lebendiges Wechselspiel zwischen Gefühl und Verstand. Angeborenes künstlerisches Talent hält er in der Kunst und damit auch in der Architektur für unabdingbar, doch ihm ist auch bewusst, dass nicht jeder über dieses Talent verfügt. Der Mangel an künstlerischer Intuition könne jedoch durch ein intensives Studium guter architektonischer Vorbilder und durch eine gute praktische Ausbildung weitgehend kompensiert werden. Auf diese Weise werde auch ein mittelmäßig begabter Architekt in die Lage versetzt, tadellose Architektur zu entwerfen. Künstlerische Intuition sei demnach nicht lehrbar, doch der Sinn dafür lasse sich durch das intensive Studium guter architektonischer Vorbilder schärfen. Diese Annahme Schinkels stellt den Ausgangspunkt für das Lehrkonzept "Entwerfen mit Vorbildern" am Lehrstuhl Grundlagen der Architektur dar. Ausgehend von konkreten architektonischen Vorbildern, die erfahren, aufgenommen und analysiert werden, bearbeiten die Studenten Themen aus dem Vorbild und transformieren diese im individuellen Entwurf.

Die Vorbilder

Die Auswahl geeigneter architektonischer Vorbilder, die wir in der Lehre verwenden, entscheidet sich in hohem Maße dadurch, ob die Architektur als "Antlitz der Zeit", wie der Fotograf August Sander sein Werk verstanden wissen wollte, gelesen werden kann - im Gegensatz zu einer Architektur als Kunst. In der Regel wählen wir solche Bauten als Vorbilder aus, die nicht unbedingt von berühmten Architekten stammen und meiden sogenannte Stararchitektur mit Zwang zur Originalität und Einzigartigkeit. Stattdessen halten wir "anonyme Architektur", die nicht vom Architekten geplant wurde, für besser geeignet, um von ihnen zu lernen. Bauernhäuser, Speichergebäude und auch Wohnhäuser vergangener Zeiten wurden häufig von Handwerksmeistern geplant und gebaut, die auf der Basis einer einheitlichen Bautradition handelten. Damit sind diese Bauten objektiver und kollektiver Ausdruck einer bestimmten Zeit, ihrer gesellschaftlichen Bedingungen und Konstruktionsmethoden und nicht das Resultat eines individuellen Künstlers. Folglich lassen sich anhand solcher Bauten sehr gut die allgemeinen Grundlagen der Architektur in der Lehre vermitteln.

Auch der Gegenstand der Übungen unserer Übungen ist in der Regel ein Wohnhaus, eine der grundlegenden Aufgaben der Architektur. Jeder von uns wohnt bereits sein Leben lang und wir sind daher mit dem Wohnen aus eigener Erfahrung bereits sehr vertraut. Anknüpfend an diese Erfahrungen, die sich oft auf Dinge beziehen, die nicht in erster Linie mit der Architektur zusammenhängen, beschäftigen wir uns mit dem Wohnhausbau und dem Thema Wohnkultur als grundlegende, aber anspruchsvolle Aufgabe der Architektur.

Typologien als Vorbild

Der architektonische Typus spielt in unserer Lehre eine zentrale Rolle. Als Grundelement einer Stadt oder Region entwickelt sich ein Typus im Laufe der Zeit allmählich und wird durch den Ort, das Klima, das verwendete Material und die Konstruktionsmethoden sowie die gesellschaftlichen Bedingungen geprägt.

Im Entwurf können wir in kreativer Weise mit Typologien umgehen. Dabei bezieht sich der "Typus (...) weniger auf das Bild einer Sache, welches vollständig nachzuahmen ist, als vielmehr auf die Idee, die dem Modell selbst als Regel dient." Diese Definition Quatremère der Quincys weist uns einen Weg, wie wir aus Vorbildern lernen können. Nicht das direkte Kopieren, sondern das Entschlüsseln einer konstanten, dem Typus innewohnenden Idee, die wiederum in einer Vielzahl unterschiedlicher Formen zum Ausdruck gebracht werden kann, wird angestrebt. Ziel ist es, diese Idee des Typus - ein bestimmtes Regelwerk, eine morphologische Struktur oder räumliche Ordnung - zu analysieren und auf den eigenen Entwurf zu übertragen. Dieses Variieren einer konstanten Idee nennen wir Transformation. Wird mit dem Begriff Typus das Allgemeine, die Regel, die Idee angesprochen, so bestimmen die speziellen Rahmenbedingungen im individuellen Entwurf das Besondere, die Variante, die Ausformulierung der allgemeinen Idee in einer speziellen Form. In diesem Wechselspiel  zwischen dem Allgemeinen und Besonderen liegt der kreative Spielraum der Transformation eines Typus.

Lesarten von Vorbildern

Doch nicht nur der Typus dient uns als Vorbild im Entwurf, dies wäre eine unnötige Beschränkung. Insgesamt unterscheiden wir mehrere Interpretationsarten eines Vorbildes: Die erste Lesart entspricht noch am ehesten dem, was wir unter dem Typus verstehen - die abstrakte Idee oder das Prinzip eines Bildes. Die systematische Einteilung der Gebäude nach typologischen Merkmalen impliziert eine durchgehende einheitliche "Sprache" der Architektur, die unverändert von Ort und Zeit eine Idee festschreibt. Aber auch ein abstraktes Prinzip wie z. B. der Rhythmus einer Fassade oder ein Raumprinzip wie das "Poché" kann aus dem Vorbild aufgenommen und transformiert werden.

Wird eine einzelne Architekturform, ein architektonisches Detail aus dem Vorbild aufgenommen, so wird hier im Gegensatz zu der ersten Interpretationsart der Bilder sehr wohl kopiert. Die kreative Transformation findet dann auf einer anderen Ebene statt. Wir gehen in diesem Fall davon aus, dass die Entwurfsidee sich im Motiv einer Architekturform ausdrückt, wie in einem Erker oder einer bestimmten Raumabfolge. Die vorgefundene Form wird mit anderen Elementen des Entwurfs überlagert oder kombiniert und durch die neuen Bedingungen so verformt, dass sich das vertraute Motiv im Entwurf als Teil einer neuen Ganzheit einfügt.

Eine weitere Lesart eines Vorbildes ist seine Atmosphäre. Wenn der Typus sich in entmaterialisierter Form zum Beispiel in einem bestimmten Regelwerk zu erkennen gibt und darin Objektivität fordert, kann die Atmosphäre als Weiterentwicklung dieses Begriffes verstanden werden. Hier werden bewusst subjektive Gefühle im Betrachter angesprochen und die haptischen Eigenschaften der im Bild dargestellten Materialien spielen eine zentrale Rolle bei der Transformation des Bildes.

Das Sammeln, Analysieren und Transformieren von Vorbildern

Zusammenfassend können wir festhalten, dass das Entwerfen mit Vorbildern in drei Schritten abläuft. Im ersten Schritt werden Bilder gesammelt. Unser Ziel ist es, dass jeder Student auf lange Sicht sein eigenes persönliches Bildrepertoire anlegt, aus dem er während der Entwurfsarbeit schöpfen kann. Das Sammeln von verwertbaren Vorbildern aus Büchern, Filmen, Fotos, aus eigener Anschauung oder der Erinnerung setzt aber das Sehen, das Entdecken und Erkennen von geeigneten Bildern voraus. Was interessiert uns an einem Bild? Anschließend werden die Vorbilder in Form einer Zeichnung oder eines Modells maßstabsgetreu wiedergegeben.

Im zweiten Schritt, der Analyse, üben wir das Lesen und Interpretieren der Bilder. Aus dem Vorbild oder einer bewährten architektonischen Lösung werden diejenigen Merkmale analysiert und abstrahiert, die das Charakteristische des Vorbildes - seine Idee - ausmachen. Anaylsieren bedeutet Zerlegen, Ordnen, und Auswerten der charakteristischen Themen des Vorbildes. Dabei kann es sich um die Typologie, das Maßsystem, die Proportionen oder ein Gleiderungsschema handeln, um die Gestaltungs- oder Raumprinzipien, eine bestimmte Atmosphäre, die Lichtverhältnisse, ...

Schließlich wird das Vorbild transformiert, d.h. es wird im Entwurf an eine neue Situation mit ihren ganz bestimmten Bedingungen angepasst, bis deren Besonderheiten es so umformen, dass es wieder zu einer individuellen Lösung wird. Die Bandbreite der Transformation kann von der direkten Kopie eines einzelnen Elements und dessen Integration in eine neue Situation über die schrittweise Veränderung bis hin zur völligen Verfremdung des Vorbildes reichen. Um auszuprobieren, wie viel Veränderung ein Bild verträgt, können die vorgefundenen Themen zunächst isoliert und frei variiert werden, ohne Bezug zum Entwurf, und erst in einem nächsten Schritt an die konkreten Bedingungen im Entwurf angepasst werden, worin sie den Teil einer neuen Ganzheit bilden.